Alte Hüte
Plötzlich reden sie alle über Second Life.

Selten fühlte ich mich weniger angezogen, irgendetwas auszuprobieren. Das sind alles gaaaanz alte Hüte.

Von 1996 bis 2005 war ich in WorldsAway, einer virtuellen Welt zuerst unter dem Dach von Compuserve, dann in verschiedenen Versionen selbstständig. Da gab es all das, was bei Second Life jetzt so immens bestaunt wird, auch schon - die eigene Währung, daß man sich sein Domizil baute, Zeugs sammelte und Handel trieb, Gruppen und Cliquen, und die Vertretung von RL-Firmen in der virtuellen Welt. Es war halt allen nur 2D und Comic-Stil statt 3D.

Aber über Second Life krähen sie plötzlich alle, als habe es WA nie gegeben - als gäbe es das nicht, in der Tat, immer noch.

Und was wir nicht alles erlebt haben - die verschiedenen Besitzerwechsel und Bezahlmodelle, die Zeit, als die Server komplett darniederlagen und alle in der koreanischen Kopie Peridot Zuflucht suchten und sich verzweifelt durch koreanische Menüs hangelten, dann die Einführung der Avatarwares und der Ausbruch der Zweiklassengesellschaft (diejenigen, die richtiges Geld ausgaben, um ihren Avatar zu pimpen, und diejenigen, die das nicht taten).

Und was es nicht alles an sozialem Netzwerk gab - die deutschsprachige Clique, die sich am Brunnen traf, mit der Lady Hypatia und ihrem AntiFa-Engament (Bullen hatten in eine Anti-Nazi-Demo ihren damals noch minderjährigen Sohn abgegriffen und hundert Kilometer weiter in einer Turnhalle eingeknastet; da wurde Hyp zur Kampfmutter und betrieb das dann auch weiter), Nowhere-Man, der in dem virtuellen Laden schließlich echtes Geld verdiente, die Lady Vinylia mit den nicht genehmigten katzentechnischen Umbauten an der Wohnung (ohgott, mit der waren wir ja dann in Offenbach im Apocalyptica-Konzert!), oder auch Hülpi, der eines Nachts im Suff austickte (das haben mir aber nur der Nazgul und Hyp erzählt) und danach nie wieder auftauchte...

Spätestens aber, seit der Nazgul 2001 in die wirkliche Welt überwechselte, die Lady Hyp plötzlich nur noch mit Ammis redete und Nowhere so im Grafikenerschaffen versank, daß er kaum noch tatsächlich unterwegs war, fiel das alles auseinander, und schließlich kamen der Nazgul und ich zu der Erkenntnis, daß es wesentlich billiger sei, wenn wir die anstehenden Dinge als laufenden Kommentar per IM besprechen, statt in meinem virtuellen Wohnzimmer rumzuhocken. Wobei wir einmal pro Woche eh in meinem realen Wohnzimmer rumhocken, Filme gucken und merkwürdige Dinge mit Curry drin kochen. Also haben wir es aufgegeben.

Und jetzt, jetzt, mehr als ein Jahr später, fängt plötzlich der Rest der Welt an, von diesem größeren 3D-WA-Klon zu faseln!!

ETA: Story jetzt auch mir anständigem Ende; ich war gerade spontan damit beschäftigt, zuzuhören, wie ein Erzfeind einen Einlauf verpaßt kriegte...

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mark793, Montag, 5. Februar 2007, 12:41
Ehrlich gesagt
reizt mich Secondlife auch ohne vorige Erfahrungen bei WA, Cycosmos oder wo auch immer nicht die Bohne. Ist nicht mein Ding, irgendwelche Pixelwichte durch den Datenraum zu schieben in dem Bemühen, die Kohlenstoffwelt zu imitieren.

Als ich neulich an der Blogbar einen Kommentator las, der dafür plädierte, die Grenze zwischen Virtualität und Realität als nicht-mehr-existent zu deklarieren, hätte es mich gereizt, dem betreffenden mal ganz analog und oldschool meine Schuhspitze ins Rectum zu wuchten, um ihm ein paar nach wie vor existierende Unterschiede zwischen diesen Welten fühlbar zu machen.

sethos, Montag, 5. Februar 2007, 13:01
Im Gegenteil...
...diese Grenze ist sehr wichtig und sollte unbedingt beachtete werden, weil man sich sonst Probleme mit der Realität einhandelt - auf beiden Seiten.

Da, wo ich mich jetzt bewege, hat man für diese Grenze den Slang-Ausdruck 'IC/OOC divide', und wem die fehlt, der gilt gleich schon von vornherein als irre, und wenn man sich in die Haare gerät, ist einer der Standardvorwürfe, man würde die IC/OOC divide mißachten.

Und ja, in WA war die IC/OOC divide völlig unbekannt. Da konnte jemand heftige Flames kassieren, nur weil er als männliche Person mit weiblichem Avatar unterwegs war. Blaue Tierköpfe waren okay, aber wehe, es war nicht das richtige Geschlecht. Es gab zwar mal eine angestellte Admin-Lady, dort als 'Oracle' bezeichnet, die über Avatar-Theorie arbeitete, aber damit hat sie sich da überhaupt nicht durchgesetzt. Der Avatar warst immer du. Nur, irgendwie nicht...

Und ich kann mir nicht vorstellen, daß in Second Life das Verhältnis Kunstfigur/Tippse irgendwie besser ausgebildet oder reflektierter sein kann. Im Gegenteil, sie machen es alles nochmal. Nur größer, in 3D, und Zwo-Null-mäßig.-