Der untote Altägypter reist mit dem Zug durch Schwaben
Der Stuttgarter Schloßgarten ist eigentlich ein ganz, ganz spießiger Park. Gerade eben bin ich mal bei Tageslicht da vorbeigekommen. OMG was für ein langweiliger Ort! Freiwillig würde ich da nie hingehen.

Witzig, daß ausgerechnet so ein Ort die Keimzelle von BRD 2.0 ist. Das heißt, eigentlich ist es nicht BRD 2.0; es ist BRD 4.0.

Wieso?

BRD 1.0 war die Adenauer-Republik, die damit beschäftigt war, wirtschaftlich auf die Füße zu kommen und zu verdrängen, daß all die alten Männer, die das Sagen hatten, entweder Nazis gewesen waren, oder mit heftigem PTSD aus dem Krieg heimgekommen waren, oder sogar beides.

Dann kam 1968, und damit die BRD 2.0. Alle wurden furchtbar ernsthaft und engagiert, und Mitmachen war wichtig. Gestern habe ich mit großem Interesse Zeitdokumente davon gesehen, wie das damals alles ablief.

Nochmal 20 Jahre später (pi mal Daumen), und wir kriegten mit der Wiedervereinigung die BRD 3.0: - Wohlstand für doch-nicht-alle, Aufschwung, blühende Landschaften im Westen, Sozialdarwinismus, neoliberale Marktideologie, 'alternativlose' 'Reformen' wie Hartz IV., Privatisierungen und ein totoptimierter öffentlicher Sektor.

Das ist jetzt 20 Jahre so gelaufen, und die Leute haben mal wieder die Schnauze voll. Es ist vielleicht Zufall, daß sich ein grottenspießiger Park in der blühendsten aller Landschaften zur Keimzelle für das nächste Release unserer Staatsform entwickelt. Vielleicht ist es aber auch ganz besonders symbolisch. Oder es liegt daran, daß sich hier die neodarwinistischen Gewinnertypen ganz besonders dreist glauben aufführen zu dürfen, weil die zufriedenen, fleißigen Bürger ja wohl kaum gegen das argumenieren, was funktioniert, und auch zu brav und spießig sind, um zu protestieren.

Doch wenn das System nicht mehr funktioniert und zu viele Bürger merken, daß sie nach Strich und Faden über den Tisch gezogen werden, wenn man Spießers spießigen Schloßpark kaputtmacht, um irgendwas unter die Erde zu bauen, was toll klingt, aber nicht funktionieren kann, außer für die, die sich an den Immobilien bereichern können, die dadurch freigesetzt werden, dann haben wir eine Gemengelage, da knallt es auf ein mal wieder.

Erst in dem spießigen Park, dann systemweit.

Was jetzt kommt? Wie die BRD 4.0 aussehen wird? Fragt nicht mich, ich bin bloß ein untoter Altägypter. Ich weiß nur, da in dem spießigen Park, wo gerade eine einzige ruhmreiche orange Baumaschine zugeschneit wird und ansonsten trügerische Friedhofsruhe herrscht, da ist ein Geist aus der zerbrochenen Flasche gekrabbelt gekommen, den kriegen die Wende-Gewinner nicht mehr los.

Und der wird dann schon beschließen, wie es weitergehen soll.-


P.S.: Ist das jetzt schon die Geislinger Steige, warum habe ich das Plochinger Hundertwasser-Haus verpaßt, und wieso krabbelt der Zug hier dermaßen lahm den Hang hoch? Ist irgendwas falsch, oder hat der einfach nur Schiß wegen dem Schnee? Fragen über Fragen, und alles hängt irgendwie zusammen...

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gorillaschnitzel, Freitag, 31. Dezember 2010, 01:18
Was mich erstaunt ist: Dass das in Stuttgart passiert! (Und das sage ich nun als Schwabe). Ich weiß, dass Schwaben immer wieder aufbegehrt haben, mitunter auch sehr erfolgreich, aber so richtig häufig ist das nun ja auch nicht, zumindest nicht in den letzten 60 Jahren (davor wird es aber sehr wohl durchaus interessant).

Ich würde konstatieren, dass es eine zunehmende Entfernung -zumindest hier- zwischen Regierenden und Regierten gibt. Ich habe oft versucht zu erklären, weshalb ich zu mancher Wahl nicht gehe oder weshalb ich meine Stimme an Leute "verliehen" habe, die nicht stimmberechtigt sind. Jetzt kapieren diese Leute weshalb (aber dieses mal wird gewählt, 100% versprochen). Tanja Gönner, Verkehrsministerin, regte sich neulich mal darüber auf, dass die Leute nicht mehr gegen einen Bahnhof demonstrierten sondern für einen Systemwechsel. Sie hat es endlich verstanden. Viel zu spät. Gottseidank.

PS: Das Plochinger Hundertwasserhaus sehen Sie kurz vorm Einlaufen in den Bahnhof (von München aus) auf der rechten Seite, das Ding mit dem Turm (beim raus nach dem Bahnhof und links)

sethos, Freitag, 31. Dezember 2010, 01:49
Wenn die Leute etwa im August bei der Bahnhofssache eingelenkt hätten, dann hätten sie jetzt keine systemischen Probleme und keinen drohenden Regierungsverlust an der Backe. So etwas nennt man Eskalation. Aber wenn das alles im Endeffekt das Ende der CDU-Herrschaft in BW und mehr direkte Teilhabe an der Demokratie, und weniger 'Politikverdrossenheit' zur Folge hat, dann hat sich die Aktion ja gelohnt.



Und ja, eigentlich weiß ich, wo das Plochinger Hunderwasserhaus ist. Ich versuche jedes Mal, wenn ich vorbeikomme, es zu sehen. Manchmal gelingt es mir, manchmal, aus unerfindlichen Gründen, nicht. Diesmal nicht. Aber ich war wohl gerade dabei, diesen Blogeintrag auszuformulieren, so daß ich es verpaßt habe. Da, wo der Zug so am Raufkrabbeln war, war nämlich schon die Geislinger Steige -- kurz danach kamen wir nach Amstetten, und dann nach Lonsee, und das ist definitiv schon oben.-

jean stubenzweig, Freitag, 31. Dezember 2010, 03:16
Was zieht Sie zu Hundertwasser, was zieht Sie an? Die «Alternative»? Darüber ließe sich auch anders denken. Wie ich zum Beispiel.

sethos, Freitag, 31. Dezember 2010, 03:35
Über Hundertwasser kann man verschiedener Meinung sein. Ich behaupte auch nicht, er war ein Architekt: - er war ein Künstler. Das ist etwas anderes.

Auch als Künstler, kann man behaupten, war er vielleicht etwas zu bunt und populistisch.

Doch von Zeit zu Zeit sehe ich goldene Kuppeln gerne. Ich finde Hundertwasser entspannend. Und ich mag Kunst im Alltagskontext. Ich war mal in einem Hotel in Münster, dessen Besitzer sammelten moderne Kunst (letztes Drittel 20. Jhd., könnte man sagen), und so habe ich zwei Nächte in einem Zimmer verbracht, wo ein riesiger Sonnenaufgang von Warhol überm Bett hing, und man beim Einschlafen Bäume von Pan Walther betrachten konnte, und man auf dem stillen Örtchen einem großen bunten Keith Haring mit Delphin gegenübersaß. In einem Museum hätte ich all die Exponate gesehen, und darüber eine mittelprächtig informierte Meinung gehabt. Da, in dem Hotelzimmer, waren sie persönlich. Von diesen Bäumen ist definitiv etwas hängengeblieben.-

gorillaschnitzel, Montag, 3. Januar 2011, 03:23
Dito, Herr sethos.

Was helfen schon gedankliche Experimente a la Bloch (der nie je ein Haus erbaute) gegen tatsächlich existierende Bauten? Ich liebe Architektur und vor allem und gerade die Moderne. Aber ich hasse es, wenn einem Leute vorschreiben wollen, was man nunmal verdammt gut finden soll und weshalb.

sethos, Montag, 3. Januar 2011, 03:33
Unter all den Kunstwerken in dem Münsteraner Hotel haben mich die Bäume von der Lokalgröße Pan Walther (der hat nicht mal einen Wikipedia-Eintrag, wegen deren verdammt lächerlich strikten Relevanz-Kriterien) am meisten beeindruckt. Der Haring aufm Klo war toll, klar, aber wenn ich ein Kunstwerk hätte klauen mögen, dann wäre es das gewesen.-

Und goldene Kuppeln und bunte Säulen machen einfach Spaß. Ich war ein paar Mal im Hundertwasser-Bahnhof in Uelzen, mit weich gebogenen Übergängen zwischen Wand und Boden, und unrunden Treppen, und dem ganzen Gedönes. Das fand ich persönlich einfach vergnüglich.

gorillaschnitzel, Montag, 3. Januar 2011, 03:44
....mir wollte ja der Architekt meines Vertrauens (!) schon immer erzählen, dass der Friedensreich aber mal sowas von sankrosankt ist...was zwar sein mag, mir aber völlig egal ist, aber ich hab dennoch eine Bibel von ihm, nummeriert. Nicht weil ich ein Bibeljunkie bin, nicht weil ich Hundertwasserfan bin und nicht weil ich Christ bin, weil ich Kunst mag. Nur deshalb. 1 Exemplar aus 999. Und das meins.

sethos, Montag, 3. Januar 2011, 03:50
Wow. Ich bin beeindruckt. Bei mir hält sich der persönliche Kunst- und Antiquitätenbesitz sehr in Grenzen (1 Sandbild von einer Murnauer Künstlerin, 1 Biedermeiervitrine, 1 Gipskopf einer griechischen Göttin, sehr ergraut und patiniert, um 1900, 1 KPM-Teekanne, ca. 1890, Ende), aber ich kann mich sehr für so ein Zeug begeistern...

gorillaschnitzel, Dienstag, 4. Januar 2011, 00:34
Ich habe ja noch die Ausgabe der gesammelten Werke von Friedrich Schiller, allerdings auf Englisch und erstanden auf Kuba, aber immerhin eine Ausgabe von 18nochwas (ich müsste jetzt schauen).

Aber mal ehrlich: Vattern hat mal Hitlers "Mein Kampf" im Goldschnitt verschenkt, weil er als alter Sozi das als Dreck empfand (was es auch ist). Aber: Ein Erbstück. Nicht, dass ich das für besonders lesenswert empfunden hätte (ich habs gelesen, es ist überhaupt nicht lesenswert, eher öde und langweilig). Und auch wenn Opawiderstandskommunist mich dafür wohl umhauen würde: Ich hätte das Teil gerne gehabt. Aber vielleicht habe ich da einen etwas seltsamen Sammlerhabitus eines gottseidank zu spät geborenen.

sethos, Dienstag, 4. Januar 2011, 00:43
Mein Großvater* hatte sowas auch noch unter seinen Sachen. Der hatte allerdings auch noch Samidats aus den früher 40er Jahren, wo jemand zur Erbauung der deutschen Bevölkerung zusammengeschrieben hatte, was wirklich in den Konzentrationslagern passiert ist.

Keine Ahnung, wo das alles hingekommen ist, als meine Großmutter den Haushalt aufgelöst undd das Haus verkauft hat, um in die selbe Stadt zu ziehen, wo meine Mutter wohnte (und noch wohnt).



*Nicht der Pfarrer, der andere. Der Pfarrer sammelte die Bücher, die er und seine Geschwister in der der Kindheit gehabt hatten, und sein Nachlaß diesbezüglich ging an eine Fachbibliothek; aber seinen Biedermeier-Vitrinenschrank habe ich.

sphingula04, Dienstag, 4. Januar 2011, 22:29
...Du hast seinen Biedermeier-Vitrinenschrank, aber ich habe dafür seine Chiffoniere! *freu*

Ein altes BGB von vor 1925 habe ich übrigens aus der Haushaltsauflösung geerbt (bzw. eher schon vorher), und auch ein Exemplar des oben zitierten Werkes (allerdings nicht in Goldschnitt), aber ich habe nicht geschafft, es durchzulesen - es ist mehr als öde und langweilig, finde ich, und wirklich überhaupt nicht lesenswert.

sethos, Dienstag, 4. Januar 2011, 22:41
Du liebst die Chiffonniere, ich liebe meinen Schrank, so sind wir beide glücklich. Beide fressen irgendwie ohne Ende papierförmige und generelle Unordnung; mein Schrank hat nämlich zwei Regale, die sich heimlich hinter den Holzteilen verstecken. Ist doch klasse. Sehr nützliches Erbe.-

Also Du hast dieses Buch erwischt; das war in einem geschlossenen Teil von Großvater A.'s Bücherregal, richtig? Dann frage ich mich, ob du weißt, wo jene hereingeschmuggelte Geheimveröffentlichung hingeraten ist, die damals den Besitzer locker das Leben hätte kosten können? Der Titel war 'Bei Nacht und Nebel', und es war ein ganz unscheinbares altes Heftchen. Es enthielt nichts, was einem Teenager in den 80ern mit ordentlichem Geschichtsunterricht unbekannt gewesen wäre, aber in den letzten Jahren des 2. Weltkriegs muß das Sprengstoff gewesen sein. Daß Großvater A. das besessen hat, hat meine Achtung vor ihm posthum noch extrem steigen lassen.

sphingula04, Mittwoch, 5. Januar 2011, 14:22
...das Buch hat G. mir irgendwann rausgesucht, als "Primärliteratur" für ein Schulreferat. Wo es stand, weiß ich nicht, und von "Nacht und Nebel" weiß ich überhaupt nichts - leider!

sethos, Mittwoch, 5. Januar 2011, 18:01
Ahh, verstehe.

Mußtest du den ganzen Mist wirklich lesen für das eine Referat? Das ist ja grausam! Ich hoffe, es war wenigstens ein Leistungskurs, und es gab 'ne richtig gute Note dafür?

sphingula04, Donnerstag, 6. Januar 2011, 15:44
...das Referat war quasi eine "Auftragsarbeit" (Grundkurs), ging über Hitlers Jugendzeit und seine frühen Anfänge - und nein, ich "musste" es nicht lesen (erst recht nicht komplett!), aber für die Kindheit gab es schon durchaus etwas her. Außerdem machte es sich ganz gut als Quellenangabe bei dem Referat. :-)

sethos, Donnerstag, 6. Januar 2011, 17:32
Das glaube ich -- die Quellenangabe kam bestimmt cool und hat 'nen Extrapunkt gebracht.

Mit Hitlers Jugend haben sich entsetzlich viele Menschen auch intensiv befaßt, weil sie sich fragen, was macht so einen österreicherischen Bauernjungen zum schlimmsten Diktator in der Geschichte der Menschheit?