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Kunstfiguren
sethos | 20. Januar 11 | Topic 'Thoroughly thought through'
Damals war ihm gar nicht bewusst, dass kulturelle Unterschiede zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum in Japan eine große Rolle spielen – auf gewisse Weise ist das Pflegen von zwei Identitäten dort kein Zeichen mangelnder, sondern eher von vorhandener Integrität. Ebenso wenig machte er sich Gedanken darüber, dass japanische Internet-Nutzer eine enge Beziehung zu ihren Online-Pseudonymen und anderen Alternativ-Identitäten haben.[[von hier]]
Einmal Japanologe, immer Japanologe. Ich glaube, ich war online immer schon ein bißchen japanisch. Die Fachbegriffe hier sind honne (die wahre, eigentliche inner Natur und Identität) und tatemae (den Anschein, den man sich je nach sozialem Kontext gibt). Anhänger dieser Dualität gehen davon aus, daß das Online-Umfeld die Kunstfigur(en), als die man unterwegs ist, ohnehin als tatemae erkennen und nicht erwarten wird, offline dann das anzutreffen, als das die Person am Keyboard die Kunstfigur online präsentiert hat.
Vor langer Zeit, in den 90er Jahren, in WorldsAway, da 'war' ich nicht mein jeweiliger Avatar, sondern der Avatar war eine Kunstfigur, die ich spielte und die mal mehr, mal weniger für mich (= honne) sprach. Andere Leute sahen das nicht so. Als ich den Nazgul das erste Mal in RL traf, hätte ich ihn ansatzlos vom Avatar her erkennen können, obwohl er keinen Frettchenkopf aufhatte. Wieder andere Leute wurden richtig angefressen und erklärten, ich könnte doch nicht den Anschein verbreiten, als sei ich dies, und dabei sei ich in Wahrheit das. Das erklärte ich für Unsinn. Ein Avatar ist nie sein Besitzer. Von einer Online-Identität wird nicht erwartet, honne abzubilden.
Das kapieren manche bis heute nicht. Das hat mich zu Hype-Zeiten aus Second Life ferngehalten (das, und die Tatsache, daß man da endlos Zeit verbraten konnte, zumal mein armer alter ME-Rechner beim Rendern der Grafik regelmäßig beinahe ausstieg), und das hält mich heute aus Fratzenbuch und dergleichen Klarnamenveranstaltungen fern.
Hier ist es wenigstens offensichtlich, daß ich in RL (= honne) kein untoter Altägypter namens Sethos bin. Das kommt, weil meine Schwester schon immer 'die Sphinx' war (aus historischen Gründen, zu kompliziert zu erklären), und weil ich mich mal in Diskussionen gegen einen Troll durchsetzen mußte, der unter dem Namen Ramses unterwegs war, plus einem kleinen Umweg über etwas, das der Nazgul mal geschrieben hat. Aber keiner, der mich offline treffen würde, erwartet wortwörtlich Imhotep.
Also kann ich alles mögliche sein, und das verschafft Ausdrucksfreiheit, online wie offline. Freudig kann ich mich online frakturieren und verschiedene Interessen durch verschiedenen Kunstfiguren darstellen, ohne daß ich persönlich das Gefühl hätte, ich würde hier Leute anschwindeln. Keineswegs ist das ein Zeichen für Wahnsinn im Sinne einer gespaltenen Persönlichkeit. Im Gegenteil, an anderen Orten, wo ich unterwegs bin, nennt man das die 'IC/OOC divide', und das Fehlen derselben ist eine der ärgsten Beleidigungen, die man jemandem vorwerfen kann, denn es bedeutet Wahnsinn, im Sinne von Realitätsverlust.
Beim Fratzenbuch, oder beim Zwitschern, hat man nur einen Account und nur eine Realität zu haben. Das behagt mir gar nicht. Ich will nicht nur blutleer im Rahmen eines tatemae kommunizieren, das auch ein eventueller neuer Brötchengeber ohne Nachteile für mich sehen kann. Noch weniger will ich, wie es wohl erwartet wird, für jeden, der mein 'Freund' zu sein Anspruch hat, mein inneres 'ehrliches' honne öffentlich zur Schau stellen. Manche Dinge will ich mit manchen Leuten, egal wie nett sie sonst sind, gar nicht diskutieren
Manche Dinge gehen sogar niemanden außer mir selbst etwas an, und wenn ich sie für mich behalte, heißt das noch lange nicht, daß ich lüge. Da bin ich auch wieder sehr japanisch angehaucht. Was man sich in einem leicht beeindruckbaren Alter jahrelang offiziell und als Hauptberuf ins Hirn gestopft hat, das prägt doch...
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