Die Geisterfamilie
Wenn ich, wie heute, einen Tag zu Hause verbringe und daheim arbeite, dann sind mir manchmal die Leute gegenwärtig, die hier in meiner Noch-Wohnung vor hundert Jahren gehaust haben müssen.
Wohnküche, Stube, Klo auf dem Gang, zum Teilen mit den Leuten von nebenan, die eine zweite Stube hatten. Die Leute mit den drei Stuben hatten schon immer ihr eigenes - seit 1873.
Dies war ein Slum. Eine Arbeiterfamilie wird hier gewohnt haben, wie die berlinerische bei Hans Fallada. Aber vielleicht weniger kaputt - man soll sich ja nicht mit Fleiß dramatische Geschichten ausdenken? Oder?
Vater, Mutter und drei Kinder werden es gewesen sein, nehmen wir mal an, dazu noch die Oma. Der Vater wird tagsüber in einer der Fabriken der Gegend gearbeitet haben, 20 Minuten Fußmarsch in und zurück, nicht schlimm. Das älteste Kind war vielleicht schon 'in Stellung' wenn es ein Mädchen, in einer Lehre, wenn es ein Bub war; die beiden Kleineren in der Volksschule. Die Mutter und Großmutter werden neben der Hausarbeit noch Näharbeiten angenommen haben, um etwas beizutragen; vielleicht Aufträge von der Näherei nebenan, die es Ewigkeiten gegeben haben muß, bevor sie diesen August wegen bevorstehender Sanierung dicht gemacht wurde. Mittags kamen alle außer dem Lehrling/Dienstmädchen heim, da hatte pünktlich das Essen auf dem Tisch zu stehen. Irgenwo an der Wand gab es ein Kruzifix, und vielleicht standen ein paar Blumen und ein Käfig mit einem Kanarienvogel auf dem Fensterbrett? Und eine wird immer daheim gewesen sein, entweder die Mutter oder die Oma, während die andere Besorgungen machte und mit den Nachbarinnen schwatzte. Die Nähmaschine stand in der Stube, die Schulkinder machten nachmittags am Küchentisch ihre Schularbeiten, und man ging früh ins Bett, stand früh auf.
Manchmal, wenn ich einen Wochentag daheim verbringe, dann habe ich fast das Gefühl, ich könnte diese imaginären Geister noch fühlen, diese potentielle Alltagsgeschichte. Niemals hätte sich diese Mutter, die vielleicht vor hundert Jahren an genau der gleichen Stelle an ihrer Nähmaschine saß wie ich jetzt an meinem Computer, auch nur träumen lassen, daß hier einmal ein Drittel der Küche zum Badezimmer umgebaut würde, und ein alleinstehender Untoter sein Unwesen treibt, mit einem roten Kater als Begleitung, und die Wohnung jeden Tag für etwa acht Stunden menschenleer ist.
Meinen Computer, meinen Kater, meine Bücher und meinen Telefon- und Internetanschluß kann ich nach drüben, in die brandneue Wohnung mit Badewanne und ohne Geschichte, mitnehmen; ich werde der allererste Mieter sein.
Aber nicht die Geister und ihre putative Historie. Die bleiben hier, werden heimatlos, wenn das Haus abgerissen wird, und vergessen. Wenn ich dann drüben einen Tag daheim arbeite, bin ich bis auf meinen Katz ganz alleine.-
Wohnküche, Stube, Klo auf dem Gang, zum Teilen mit den Leuten von nebenan, die eine zweite Stube hatten. Die Leute mit den drei Stuben hatten schon immer ihr eigenes - seit 1873.
Dies war ein Slum. Eine Arbeiterfamilie wird hier gewohnt haben, wie die berlinerische bei Hans Fallada. Aber vielleicht weniger kaputt - man soll sich ja nicht mit Fleiß dramatische Geschichten ausdenken? Oder?
Vater, Mutter und drei Kinder werden es gewesen sein, nehmen wir mal an, dazu noch die Oma. Der Vater wird tagsüber in einer der Fabriken der Gegend gearbeitet haben, 20 Minuten Fußmarsch in und zurück, nicht schlimm. Das älteste Kind war vielleicht schon 'in Stellung' wenn es ein Mädchen, in einer Lehre, wenn es ein Bub war; die beiden Kleineren in der Volksschule. Die Mutter und Großmutter werden neben der Hausarbeit noch Näharbeiten angenommen haben, um etwas beizutragen; vielleicht Aufträge von der Näherei nebenan, die es Ewigkeiten gegeben haben muß, bevor sie diesen August wegen bevorstehender Sanierung dicht gemacht wurde. Mittags kamen alle außer dem Lehrling/Dienstmädchen heim, da hatte pünktlich das Essen auf dem Tisch zu stehen. Irgenwo an der Wand gab es ein Kruzifix, und vielleicht standen ein paar Blumen und ein Käfig mit einem Kanarienvogel auf dem Fensterbrett? Und eine wird immer daheim gewesen sein, entweder die Mutter oder die Oma, während die andere Besorgungen machte und mit den Nachbarinnen schwatzte. Die Nähmaschine stand in der Stube, die Schulkinder machten nachmittags am Küchentisch ihre Schularbeiten, und man ging früh ins Bett, stand früh auf.
Manchmal, wenn ich einen Wochentag daheim verbringe, dann habe ich fast das Gefühl, ich könnte diese imaginären Geister noch fühlen, diese potentielle Alltagsgeschichte. Niemals hätte sich diese Mutter, die vielleicht vor hundert Jahren an genau der gleichen Stelle an ihrer Nähmaschine saß wie ich jetzt an meinem Computer, auch nur träumen lassen, daß hier einmal ein Drittel der Küche zum Badezimmer umgebaut würde, und ein alleinstehender Untoter sein Unwesen treibt, mit einem roten Kater als Begleitung, und die Wohnung jeden Tag für etwa acht Stunden menschenleer ist.
Meinen Computer, meinen Kater, meine Bücher und meinen Telefon- und Internetanschluß kann ich nach drüben, in die brandneue Wohnung mit Badewanne und ohne Geschichte, mitnehmen; ich werde der allererste Mieter sein.
Aber nicht die Geister und ihre putative Historie. Die bleiben hier, werden heimatlos, wenn das Haus abgerissen wird, und vergessen. Wenn ich dann drüben einen Tag daheim arbeite, bin ich bis auf meinen Katz ganz alleine.-