Kunstfiguren
Damals war ihm gar nicht bewusst, dass kulturelle Unterschiede zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum in Japan eine große Rolle spielen – auf gewisse Weise ist das Pflegen von zwei Identitäten dort kein Zeichen mangelnder, sondern eher von vorhandener Integrität. Ebenso wenig machte er sich Gedanken darüber, dass japanische Internet-Nutzer eine enge Beziehung zu ihren Online-Pseudonymen und anderen Alternativ-Identitäten haben.
[[von hier]]

Einmal Japanologe, immer Japanologe. Ich glaube, ich war online immer schon ein bißchen japanisch. Die Fachbegriffe hier sind honne (die wahre, eigentliche inner Natur und Identität) und tatemae (den Anschein, den man sich je nach sozialem Kontext gibt). Anhänger dieser Dualität gehen davon aus, daß das Online-Umfeld die Kunstfigur(en), als die man unterwegs ist, ohnehin als tatemae erkennen und nicht erwarten wird, offline dann das anzutreffen, als das die Person am Keyboard die Kunstfigur online präsentiert hat.

Vor langer Zeit, in den 90er Jahren, in WorldsAway, da 'war' ich nicht mein jeweiliger Avatar, sondern der Avatar war eine Kunstfigur, die ich spielte und die mal mehr, mal weniger für mich (= honne) sprach. Andere Leute sahen das nicht so. Als ich den Nazgul das erste Mal in RL traf, hätte ich ihn ansatzlos vom Avatar her erkennen können, obwohl er keinen Frettchenkopf aufhatte. Wieder andere Leute wurden richtig angefressen und erklärten, ich könnte doch nicht den Anschein verbreiten, als sei ich dies, und dabei sei ich in Wahrheit das. Das erklärte ich für Unsinn. Ein Avatar ist nie sein Besitzer. Von einer Online-Identität wird nicht erwartet, honne abzubilden.

Das kapieren manche bis heute nicht. Das hat mich zu Hype-Zeiten aus Second Life ferngehalten (das, und die Tatsache, daß man da endlos Zeit verbraten konnte, zumal mein armer alter ME-Rechner beim Rendern der Grafik regelmäßig beinahe ausstieg), und das hält mich heute aus Fratzenbuch und dergleichen Klarnamenveranstaltungen fern.

Hier ist es wenigstens offensichtlich, daß ich in RL (= honne) kein untoter Altägypter namens Sethos bin. Das kommt, weil meine Schwester schon immer 'die Sphinx' war (aus historischen Gründen, zu kompliziert zu erklären), und weil ich mich mal in Diskussionen gegen einen Troll durchsetzen mußte, der unter dem Namen Ramses unterwegs war, plus einem kleinen Umweg über etwas, das der Nazgul mal geschrieben hat. Aber keiner, der mich offline treffen würde, erwartet wortwörtlich Imhotep.

Also kann ich alles mögliche sein, und das verschafft Ausdrucksfreiheit, online wie offline. Freudig kann ich mich online frakturieren und verschiedene Interessen durch verschiedenen Kunstfiguren darstellen, ohne daß ich persönlich das Gefühl hätte, ich würde hier Leute anschwindeln. Keineswegs ist das ein Zeichen für Wahnsinn im Sinne einer gespaltenen Persönlichkeit. Im Gegenteil, an anderen Orten, wo ich unterwegs bin, nennt man das die 'IC/OOC divide', und das Fehlen derselben ist eine der ärgsten Beleidigungen, die man jemandem vorwerfen kann, denn es bedeutet Wahnsinn, im Sinne von Realitätsverlust.

Beim Fratzenbuch, oder beim Zwitschern, hat man nur einen Account und nur eine Realität zu haben. Das behagt mir gar nicht. Ich will nicht nur blutleer im Rahmen eines tatemae kommunizieren, das auch ein eventueller neuer Brötchengeber ohne Nachteile für mich sehen kann. Noch weniger will ich, wie es wohl erwartet wird, für jeden, der mein 'Freund' zu sein Anspruch hat, mein inneres 'ehrliches' honne öffentlich zur Schau stellen. Manche Dinge will ich mit manchen Leuten, egal wie nett sie sonst sind, gar nicht diskutieren

Manche Dinge gehen sogar niemanden außer mir selbst etwas an, und wenn ich sie für mich behalte, heißt das noch lange nicht, daß ich lüge. Da bin ich auch wieder sehr japanisch angehaucht. Was man sich in einem leicht beeindruckbaren Alter jahrelang offiziell und als Hauptberuf ins Hirn gestopft hat, das prägt doch...

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sphingula04, Freitag, 21. Januar 2011, 10:06
Na gut, Du bist kein untoter altägypter namens Sethos, aber tot bist Du zumindest auch nicht, der Teil stimmt also schon einmal offensichtlich. ;-)

Ansonsten - DICH würde ich anhand von Sethos in RL auch problemlos inhaltlich wiedererkennen (oder vielmehr anders herum), das bist schon Du, jedenfalls für mich. Gut, die Verpackung mag anders sein, aber das, was verpackt ist, bleibt sich doch ziemlich gleich... auch wenn Einzelteile von Dir meinetwegen anderweitig noch einmal extra verpackt sind.

Kehrst Du denn nicht für die meisten Online-Identitäten einfach nur etwas, einen Teil von Dir heraus?

Das machen die meisten Leute offline genauso, je nachdem, mit wem sie es gerade zu tun haben und in welcher Situation sie gerade stecken und was sie sich wovon versprechen. Katastrophe!

Andererseits habe ich gerade online wieder ein großes Gezeter erlebt, weil jemand in seine Online-Identität nicht Original-Teile von sich verpackt hatte, sondern eher das, was man eben gerade NICHT ist oder was man gerne sein würde, aber eben doch nicht ist - das nehmen die (meinetwegen unjapanisch angehauchten) Netz-User hierzulande dann doch krumm... da ist dann wohl wirklich eine gewisse Erwartungshaltung vorhanden, dass das "tatemae" zumindest einen Anteil von "honne" enthält. So gesehen hast Du hier wohl doch nicht komplett unrecht...

sethos, Freitag, 21. Januar 2011, 16:25
Was krumm genommen wird (nehme ich mal an), ist, wenn einer einen Cyrano baut, also bei einer direkten persönlichen Interaktion, die auf offline-Bekanntschaft abzielt, Teile in die Kunstfigur hinzufügt, die beeindrucken sollen, die er aber nicht durchhalten kann. Wenn die Lady M. einen Typ trifft, der eine wesentlich größere Nase (oder so) hat als angesagt, dann kann man ihr nicht so richtig krumm nehmen, wenn sie sich beschwindelt fühlt, honne und tatemae hin oder her.

Zum erkennbaren honne hier auf diesem Blog tragen natürlich auch die Kater bei. Für den bloggerechten Katzencontent (zumal mit Bildern) müssen sie eins zu eins so bleiben, wie sie sind. Ich käme nicht lange damit durch, zu behaupten, ich hätte solche pharaonischen Omani-Katzerl mit Ohrmilben, wo ich pumperlgesunde Pferdestallkater aus dem Alpenvorland habe. Katzen können kein tatemae.

sphingula04, Freitag, 21. Januar 2011, 17:29
...Du hättest gerne Ohrmilben?!?

Nein, es wird auch krumm genommen, wenn man z.B. in einem Forum "fakt", wo Mütter Hilfe bei Stillproblemen bei anderen Müttern suchen wollen, und dann kloppt eine übelste Stammtischparolen, und hinterher war alles gar nicht ernst gemeint und sowieso nur zum Spaßhaben und Provozieren. Kommt auch nicht gut...

(Und - nein, ich war's nicht!)

Ach so - Lady M. findet eh potentiell alle Typen süß, solange sie sich nur an ihr einigermaßen interessiert zeigen, und große Nasen sind sowieso ein Versprechen für sich. ;-) Obwohl - wenn das Versprechen dann nicht eingehalten wird... aber das ist dann kein honne-tatemae-Konflikt mehr.

sethos, Freitag, 21. Januar 2011, 17:55
Nein, ich möchte keine Ohrmilben, aber vielleicht Omani-Katzerl (so theoretisch), und die hatten Ohrmilben, wie die Lady Kelef bei jenem Post in den Kommentaren anmerkte.

Und ich hätte jetzt auch nicht gedacht, daß du üble Stammtischparolen gekloppt hättest; selbst zur Provokation irgendwelcher Leute würdest du das nicht so arg lange durchhalten, ohne dich so schlappzulachen, daß du nicht mehr richtig tippen kannst.

Und wieso würde jemand auf so einem Forum 'faken'? Ging das irgendwie in die Richtung von rule 34?

sphingula04, Samstag, 22. Januar 2011, 12:44
Nee, kein Stück *rule 34*.

Aber Du ahnst ja nicht, wie unversöhnlich sich professionelle Mütter gegenüberstehen können, gerade bei den Themen "Stillen" (was natürlich das einzig natürliche für Kinder ist, und wer etwas anderes macht, muss automatisch damit rechnen, dass es genau deswegen Probleme gibt, und wahrscheinlich ist das Baby nur deswegen ein Schreibaby oder bekommt später ADHS oder sonstwas, da ist alles nur die still-verweigernde Mutter daran schuld! - Extremposition 1) und "Schlafen" (das einzig natürliche für ein Baby ist es, wenn es den ganzen Tag herumgetragen wird und im Familienbett schlafen darf, und die bösen anderen Eltern konditionieren ihre Kinder ja nur, die dann resigniert aufgegeben und ihre Grundbedürfnisse auf Tragen und elterliche Nähe frustriert nicht mehr einfordern, jawoll ja! - Extremposition 2).

Oder Du nimmt "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind", sehr schönes Standardwerk, mit dem damals unsere Großmutter ihre vier Kinder großgezogen hat *örgs*. Das wäre dann Version "alle vier Stunden tränken und trockenlegen und dann wieder ins Kinderbett packen, und wenn's schreit, kräftig das die Lungen, jawoll!".

Was meinst Du, was in dem Spannungsfeld für potentielle Zwiste lauern, und wie ergiebig sich das ein Fake austoben kann...

sethos, Samstag, 22. Januar 2011, 15:10
Mit 'Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind' begibt man sich aber auf das Gebiet von Godwin's Law, und zwar ziemlich ziemlich zielstrebig und so, daß man böse Wörter, die mit F oder N anfangen, geradezu herausfordert. Und wenn die dann gefallen sind, beginnt die Schlammschlacht. Dann kann der Troll Eintritt nehmen und Popcorn verkaufen.