Donnerstag, 14. Oktober 2010
Schicht im Schacht mit Don Lucho...
... oder, was wir alle von Chile lernen müssen.

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Gestern nacht hing ich bis gegen vier vorm Glotzophon, schaute auf BBC Worldwide die Rettung der Bergleute* in Chile an, bis ganz zum Ende. Da kam als letzter Bergmann der Steiger** hoch, 'Don Lucho', Luis Urzua, und hielt dem wartenden Staatspräsidenten eine relativ ausführliche Rede.

Das ist richtig. Der Bergmann redete, und der politische Quasselkopp hatte zuzuhören. Der Präsident versuchte zwar auch, seinen Teil zu der Unterhaltung beizutragen, aber er war nicht wirklich gefragt.

Was hatte Don Lucho nun dem Präsidenten zu sagen? Hat er sich bedankt? Hat er Kritik geübt und politische Forderungen gestellt? Mußte er sich von der Seele reden, was sich in 70 Tagen als oberste Autorität in einer Situation auf Leben und Tod angestaut hatte? Nunja, vielleicht ein bißchen von all dem.

Aber vor allen Dingen, so entnahm ich (mit meinen minimalsten Spanischkenntnissen und der wackligen Übersetzung der BBC) Don Luchos Ansprache, erstattete er einfach Rapport. 'Wir haben dies gemacht, dann haben wir das gemacht, dann ist dies passiert, dann haben wir jenes gemacht, und dann ist das falsch gelaufen...' Zum Ende, als er alles gesagt hatte, was er fand, daß er sagen mußte, erklärte er, jetzt hat er fertig und übergibt die Schicht, vielen Dank an alle. Und dann sangen sie alle zusammen sehr langsam und sehr schief die chilenische Nationalhymne.

Da übergab also einfach der Steiger, dem das Bergwerk während seiner Schicht unterstanden hatte, die Verantwortung zurück an seinen Vorgesetzten, und meldete sich vom Dienst ab.

Und ja, der Präsident ist wirklich der Vorgesetzte; das war kein patriotisches Pathos. Die Betreibergesellschaft des Bergwerks ist nach dem Unglück pleite gegangen, und der chilenische Staat hat sofort die Konkursmasse beschlagnahmt, damit sich nicht irgendjemand mit irgendwelchen Restwerten aus dem Staub machen kann. Und als Chef des Staates ist der Präsident dann wirklich Don Luchos oberster Chef.

Zugegebenermaßen ist dieser chilenische Präsident ein Konservativer, ein Freund der Bosse, durch seine Politik mitschuldig an dem Unglück, und im Zivilberuf Milliardär*** -- aber in dem Moment nahm man ihm ab, wirklich lernfähig zu sein. Und seinen persönlichen Einsatz hat er demonstriert, indem er da war, bei jedem einzelnen Bergmann, 24 Stunden lang. Sicherlich konnte er sich irgendwo hinsetzen und 'nen Kaffee trinken, wenn die Fenix-Kapsel wieder unterwegs war, aber wenn wieder einer hochkam, stand der Präsident da und hieß ihn persönlich willkommen. Jedes Mal. Geschlafen hat der nicht. Der hat das da ausgehalten, an seinem eigenen verwöhnten Milliardärskörper, hat das mit den Einsatzkräften wortwörtlich durchgestanden, hat zwischendrin hellwach der BBC (und sicher auch anderen Medien) ein bemerkenswertes Interview gegeben, und damit einen Einsatz gezeigt, der wirklich unbequem und physisch massiv unangenehm gewesen sein muß. Das nur als Anhaltspunkt, weshalb ich ihm jetzt erstmal bis zum Beweis des Gegenteils guten Willen unterstelle.

Der BBC-Reporter stellte nämlich freudig auch unangenehme Fragen, und der Präsident von Chile dachte gar nicht daran, sich zu winden und Ausflüchte zu machen, wie wir es von jedem westlichen Politiker selbstverständlich erwarten. Ja, der Staat war mit Schuld an dem Unglück. Ja, das Bergwerk hätte längst geschlossen gehört und hätte nach den warnenden Anzeichen, die die Bergleute gemeldet hatten, nicht mehr in Betrieb sein dürfen. Ja, das war ein großes Versäumnis, seine Regierung ist selbst in der Pflicht, und man wird sich ändern. So etwas wird nicht wieder vorkommen, und der Staat wird dafür sorgen, daß die Sicherheit und die Würde jedes Arbeiters in Chile zukünftig respektiert wird, nicht nur im Bergbau, in jeder Branche, ob das nun Bergbau, Stahlindustrie, Schiffbau oder Fischerei ist.

Das hat er dann später in seiner Rede an die Angehörigen der Bergleute in Camp Esperanza nochmal gesagt: Sicherheit und Würde der Arbeiter sind genauso wichtig wie Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit.

Sicherheit -- klar. Da hat Chile als Schwellenland Nachholbedarf, da gibt es gewerkschaftliche Positionen und Technologien und gesetzliche Regelwerke aus anderen Ländern, und vieles ist sicher schon erreicht, wenn das eingehalten wird, was bereits Vorschrift ist, und keine Ausnahmen mehr gemacht werden für irgendwelche Bosse, die im selben Club Golf spielen wie irgendein wichtiger Beamter oder Regierungsvertreter. Chile hat auch mit dem unbedingten Willen, die Bergleute zu retten, koste es was es wolle (auf die Frage nach den Kosten sagte der Präsident der BBC, das sei doch völlig egal****), gezeigt, daß es ein zivilisiertes Land ist, im Gegenteil zu Gegenden wie China oder Rußland, wo Bergleute schon mal in ähnlichen Situationen zu hunderten zu Tode kamen.

Würde. Der Präsident hat immer von der Würde der Arbeiter geredet, und das ist es, was wir in diesem Moment, in dieser geopolitischen Konstellation, von Chile lernen können.

Respekt vor der Würde und der Leistung der Arbeiter bedeutet nicht nur, sie angemessen zu bezahlen. Das gefährliche alte Gold- und Kupferbergwerk zahlte sehr gut, deshalb haben diese Bergleute dort ja überhaupt gearbeitet. Die arbeiteten da teilweise, damit ihre Kinder studieren können und mal ein besseres Leben haben werden. Geld ist hier nicht das Thema, oder nur am Rande.

Arbeitslohn sollte ja (trotz gegenteiliger Witze) kein Schmerzensgeld sein, und das ist er, ohne Würde.

Als ich dabei war, als junger Hüpfer zu lernen, was es heißt, die Verantwortung für die Computerei zu haben, ohne die die gesamte Firma nicht arbeiten konnte, hat mich mal ein alter Hase eingebremst, als ich etwas arg radikal wurde und über die Stränge schlug, indem er mir sagte, mir fehlte noch der Respekt für die Arbeit anderer Leute.

Das ist es, was fehlt. Das ist es, was wir aus dem Unglück im Bergwerk 'San José' und seinem glücklichen Ausgang, und aus Don Luchos Rapport an den Präsidenten, lernen können.

Respekt vor der Arbeit der Bergleute hätte bedeutet, daß die Bosse ihnen zugehört hätten (wie dann am Ende der Präsident Don Lucho zuhören mußte) und ihre professionelle Erfahrung respektiert hätten, als sie vorher gesagt haben, das Bergwerk arbeitet mehr als sonst, es kracht viel öfter als zwei Mal pro Schicht, da passiert bald was, man muß etwas unternehmen.

Die Würde der chinesischen Arbeiter bei Foxconn ist es, was den westlichen Auftraggebern von Apple, Dell, HP und so weiter so furchtbar egal ist, und weshalb dort Menschen gestorben sind. Ein bißchen mehr Geld stellt die Würde nicht wieder her. Anständige Unterkünfte mit Privatsphäre, und ein Umgang mit den Menschen unter dem Vorzeichen, daß es sich um erwachsene eigenverantwortliche Menschen wie man selbst handelt, würden da eher helfen.

Mangelnder Respekt vor den Bedenken der Menschen in Stuttgart gegen den großformatigen, teuren Umbau ihrer Stadt ist es, was die Situation dort vor 14 Tagen so hat eskalieren lassen. Wenn ein 66jähriger Ingenieur im Ruhestand, noch frisch von einem ganzen Leben professioneller Erfahrung (nach einer guten Ausbildung, die ihn dazu befähigt hatte, diese Erfahrung zu sammeln), protestiert, daß das, was die da bauen wollen, technisch und wirtschaftlich Quatsch ist (und die Erfahrung, das zu sagen, unterstelle ich ihm mal, angesichts der Eckdaten, die von ihm bekannt sind, wie ich dem chilenischen Präsidenten guten Willen unterstelle), dann hört man ihm zu, und schießt ihm nicht mit einem Wasserwerfer beide Augen aus.

Wenn jede Firma in jeder Branche verpflichtet ist, die Würde ihrer Arbeiter und Angestellten zu achten, so wie es der chilenische Präsident für sein Land versprochen hat, dann ist hier bei uns in der 'ersten Welt' für viele schlechte Angewohnheiten erst mal Schicht im Schacht. Ja, die Redewendung 'Schicht im Schacht' stammt aus dem Fachjargon der Bergleute, und Don Lucho hat uns letzte Nacht daran erinnert, indem er seine Schicht ganz wörtlich formell aus dem Schacht gebracht hat.

Schicht im Schacht für alle großen internationalen Konzerne, die die Würde ihrer Angestellten mißachten, indem sie sie als human resources betrachten, die komplett fungible sind, die man mit Consultant-Zecken gängeln, mit Kameras überwachen, wie Schachfiguren beliebig in der strategischen Konzernaufstellung herumschieben, ausgliedern, wieder eingliedern, ungefragt versetzen oder in eine Ecke abschieben darf, anstatt sie wie erwachsene Menschen zu behandeln, die ihren Beruf verstehen und die ihren angemessenen Arbeitslohn nicht dafür bekommen, daß sie sich mit Haut und Haaren an ihren Arbeitgeber verkaufen, der dafür mit ihnen machen darf, was er will, sondern die dafür als selbstverantwortliche Menschen eine gute Arbeit abliefern, deren Stellenwert in der Firmenganzheit ihnen eine professionelle Würde gibt.

Schicht im Schacht für Politiker, die ihr Mandat als Verpflichtung gegenüber den Wahlkampfspendern ihrer Partei und als Gelegenheit, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, ansehen, und die Würde der souveränen Wähler mißachten, die mit ihrer Arbeit das Steueraufkommen finanzieren, das die regierenden Blindgänger dann hinterher an Leute verteilen, die zufällig im selben Club Golf spielen wie sie und ihnen hinterher bei einem wohlschmeckenden Kaltgetränk erklären, wieso sie dies und das so und so zu sehen haben. Das endet dann damit, daß irgendwelchen Bankstern ungebremst Geld nachgeworfen wird und plötzlich ansatzlos die Atomkraftwerke weiterlaufen sollen. Letzteres zeugt von der völligen Abwesenheit jeglichen Respekts vor der Arbeit der inspirierten Unternehmer, sogfältigen Ingenieure, qualitätsbewußten Fabrikarbeiter und erfahrenen Monteure, die auf dem besten Weg waren, mit dezentralen alternativen Energien die fossilen Brennstoffe und die Kernenergie volkswirtschaftlich, arbeitsplatztechnisch und in der Energiebilanz völlig zu ersetzen.

Schicht im Schacht für die Dumpinglohnunternehmer und ALG-II-Kürzer, die in einer perfiden Allianz von Furcht und Schrecken aus (relativ zur Inflation) immer billigeren Arbeitskräften immer mehr Profit ziehen, indem sie die Würdelosigkeit der Ausbeutung und der Gängelung freudig aus den Ländern reimportieren, in die sie zuvor einen Teil der hier einstmals gut bezahlten Arbeitsplätze exportiert hatten. Karel und Edita machen's bekanntlich für die Hälfte, und Frau Wu und Herr Li haben nie gelernt, daß die Würde des Menschen unveräußerlich ist und sie ein Recht darauf haben, das durchzusetzen. Dazu importiert man Waren, die von diesen Leuten unter Verlust der ihnen (laut dem chilenischen Präsidenten) zustehenden Sicherheit und Würde produziert wurden, denn nur so können hierzulande Callcenteragenten im Osten oder Hartz-IV-Empfänger überhaupt überleben, ohne daß es zu Hungeraufständen käme wie zu Beginn der industriellen Revolution. Ohne Superbilligangebote aus würdeloser Produktion in Schwellenländern könnten diese Menschen nicht zumindest so minmal am Konsum teilhaben, daß sie sich das gefallen ließen. Das fällt unter 'Brot und Spiele'. Sicherheit und Würde wären eher mit Mindestlohn und bedingungsloser Grundsicherung zu erreichen.

Schicht im Schacht für die Spätzlemafia, die ja jeder ordentliche Schwabe jahrelang hat gewähren lassen, weil sie Wohlstand ins Ländle gebracht haben, den Teil mit dem 'Häusle baue' beschleunigt haben, und dafür gesorgt haben, daß alles rund lief. Aber jetzt mißachten sie großflächig Sicherheit und Würde all der ordentlichen Schwaben, sie haben plötzlich gar keinen Respekt mehr vor der Arbeit all der Ingenieure und Lehrer und Vorarbeiter und Häuslebauer, und auf ein Mal rummst es.

Es ist das ureigenste Kennzeichen der vielgescholtenen 'Arroganz der Macht', Sicherheit und Würde der Menschen zu mißachten, die man zu beherrschen glaubt, und den Respekt vor der Arbeit anderer Leute dem Streben nach eigenem Profit unterzuordnen.

Wir sind hier nämlich die Bananenrepublik, und wir sollten uns was schämen. Nicht nur unsere Politiker, die sich niemals hinstellen und alle Fehler zugeben würde wie der chilenische Präsident letzte Nacht. Nicht nur die Unternehmer, die ja gewissermaßen nur ihre gesamtgesellschaftliche Rolle erfüllen, wenn sie freiwillig nur an ihre persönliche Bereicherung denken (daß Unternehmer immer Gefahr laufen, von der ursprünglichen Inspiration in Routine und Profitgier abzurutschen, unterstelle ich mal als natürlich, wie ich Sebastian Pinera guten Willen unterstelle, oder Dietrich Wagner Sachverstand). Sondern jeder von uns, der in dem System noch irgendwie oben bleibt und auf Kosten der Sicherheit und Würde anderer Menschen lebt.

Jeder Arbeiter in jeder Branche in jedem Land der Welt hat ein Recht auf Sicherheit und Würde.

Das ist es, was uns der Steiger und der Präsident letzte Nacht zu sagen hatten.



* Weshalb haben die ganzen Medien hierzulande immer von 'Minenarbeitern' in eine 'Mine' geredet? Das sind Bergleute (Einzahl 'Bergmann') in einem Bergwerk, und ihr Chef ist übrigens auch kein Schichtleiter, sondern ein Steiger. Wenn die Nachrichten international von 'miners' und 'mineros' reden, dann vergißt so ein kleiner Redakteur beim übersetzenden Wiedergeben der Agenturmeldung anscheinend gerne, daß wir dafür mal eine Fachsprache hatten...

** Macht nichts, daß Don Lucho wohl nie eine Bergbauschule besucht oder ein Ingenieursstudium abgeschlossen hat. Sein Funktion ist eindeutig die eines Steigers, so wie es auf einem Schiff einen Kapitän geben muß, auch wenn der vielleicht nicht an einer Hochschule wirklich Seefahrt studiert hat. Es ist letztlich die Frage, wer die Verantwortung hat, nicht, was für eine formale Ausbildung der hat. Ein Beispiel, das uns Kulturschaffenden hier vielleicht näher ist: Wenn jemand, der als IT-Hilfskraft zum Digitalisieren von Büchern in einer Bibliothek angestellt wurde, plötzlich aufgrund eines konkatenierten Personalausfalls einen Lesesaal voller wertvoller alter Bücher unter sich hat, dann ist er damit auch 'der Bibliothekar' und geht plötzlich früh schlafen, um morgens pünktlich aufzuschließen. Ohne Bibliothekswissenschaft studiert zu haben.

*** Fragt sich noch, in welcher Währung...

**** Der Kupferpreis ist in der letzten Zeit ohnehin so sehr gestiegen, daß im Zweifelsfall die Kosten allein durch die Steuermehreinnahmen aus den unerwartet gestiegenen Profiten der Kupferbergwerke wieder hereinkommen.


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