Ma'at lebt
Noch mehr Freude als die Dinge, die inhaltlich passieren macht mir momentan bei den Berichten aus Ägypten, wie weitgehend sich die Ägypter von unten selber sortieren, und an der weiteren Entwicklung mitmachen.

Die lassen nicht locker -- die werden auf diesem Level von high catastrophic normal weiteroperieren, bis die Verfassung geändert ist, Wahlen durchgeführt wurden, und die neue, demokratische Regierung im Amt ist.

Und auch diese Regierung wird dann mit einer massiven Bürgerbeteiligung arbeiten dürfen, die wir hier im Westen nur selten sehen, da wir uns an unsere wunderbaren Rechte viel zu sehr gewöhnt haben.

Auch wenn ich aus anderen historischen Gründen online als 'Sethos, der untote Altägypter' unterwegs bin, so geht mir doch Ägypten irgendwie persönlich nahe. Ich habe auch eine besondere Beziehung zu Ma'at, der altägyptischen Göttin der Gerechtigkeit; nicht nur, weil Sethos I. (derjenige, der in Zahi Hawass seinem Museum zum allgemeinen Grusel öffentlich herumliegen muß) sie auch in seinem verlängerten Thronnamen führte, sondern auch, weil ich mal eine ausführliche Rezension* über sie (bzw. über ein Buch über sie) geschrieben habe. Im Grunde verkörpert diese Göttin das erste Konzept einer objektiven, für alle gültigen Gerechtigkeit in der Menschheitsgeschichte.

Die alten Ägypter haben vielleicht nicht die Demokratie erfunden, aber definitiv den Rechtsstaat und die Menschenrechte, oder das, was später schließlich dazu werden sollte.

Und wenn man jetzt nach Ägypten schaut, dann sieht man: Ma'at lebt!



* ETA: Und weil das an der Originalstelle, wo ich dafür bezahlt wurde, längst depubliziert wurde, hier die Ma'at-Rezension -- sie stammt von 2002, das Buch ist aber noch greifbar.-

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sethos, Mittwoch, 9. März 2011, 20:20

„Fairness“ im Altertum

Mit den Begriffen einer Kultur oder Gesellschaft definiert sich deren Selbstverständnis und Menschenbild – wir wissen, dass wir nicht das Gleiche meinen, wenn wir etwa in unserem abendländischen oder im orientalischen Kulturkreis von Gerechtigkeit, Fairness oder Menschenrechten sprechen. Wir können unsere Vorstellungen von diesen Begriffen nicht einfach anderen Kulturen aufoktroyieren, und das Dinge, die in unserer westlichen Sensibilität tiefes Schaudern hervorrufen, können in anderen Ländern nicht einfach mit einem Federstrich abgeschafft werden. Wenn wir dergleichen Forderungen stellen, machen wir uns des übelsten Kulturimperialismus schuldig, selbst wenn wir über Dinge wie etwa die Unterdrückung der Frauen im islamischen Fundamentalismus reden – definitiv nicht das selbe wie der Islam an sich, übrigens. Um diesen Ideen an die – einigermaßen universellen – Wurzeln zu gelangen, ist es nützlich, in der Ideengeschichte so weit wie möglich zurückzugehen und etwa die Auffassung von Gerechtigkeit und Menschenrechten in Staat und Religion des alten Ägypten anzusehen. Gab es Menschenrechte im alten Ägypten? Nun, wenn man das vorliegende Buch gelesen hat, ist man fast geneigt zu sagen, ja.

Zumindest, wenn man Menschenrechte so definiert, dass einer Person eine gewisse Gleichbehandlung oder ein bestimmter Respekt zusteht, gemessen an ihren Leistungen und an ihrer Stellung in der Gesellschaft und im Staat. Mit dem ägyptischen Begriff „Ma'at“ entfernen wir uns von der reinen Willkür und dem praktizierten Recht des Stärkeren und dem reinen Utilitarismus (der im Moment ja als „Globalisierung“ freudig eine Renaissance erlebt und uns im Namen der „shareholder value“ auf ein ethisches Niveau im weltweiten Umgang der Menschen miteinander zurückwirft, das die alten Ägypter mir ihrer Sklaverei und ihren staatlichen Frondiensten schon locker übertroffen haben) in Richtung einer praktizierten „vertikalen Solidarität“, die (wie das vorliegende Buch zeigt) sich im Laufe der Dynastien von einer säkularen Forderung zu einem religiösen Wert gesteigert hat.

Das alte Ägypten war einer der ersten organisierten Staaten der Menschheitsgeschichte, und wohl der erste, der nicht nur unter dem Banner einer gemeinsamen Herrschaft, sondern auf der Basis eines gemeinsamen Wertkomplexes vereint war. Der Begriff Ma'at umfasst hierbei nicht nur Gerechtigkeit und Fairness, sondern beschreibt auch die Weltordnung (ein Konzept, das in dem mittelalterlichen Ordo-Gedanken und der aufklärerischen Vorstellung von Gott als Uhrmacher fortgeführt wurde). Mit meiner Position in der Gesellschaft übernehme ich als Mensch automatisch und ungefragt bestimmte Rechte und Pflichten; durch meine Leistungen und mein Verhalten erwerbe ich mir Verdienste und Ansprüche, gute und schlechte Noten, die gegeneinander aufgewogen werden können, so dass ich bekommen kann und soll, was ich verdiene – im Guten wie im Schlechten, im Leben wie im Jenseits. Das akzeptierende Verbleiben in dieser Ordnung und das Anstreben, durch eigenes Handeln dieser ausgleichenden Harmonie Gültigkeit zu verschaffen, und das Bestreben, im Rahmen dieser Rechnung so viele positive Punkte wie möglich zu erwerben, auch aber die Gerechtigkeit und Gnade der Götter gegenüber den Menschen, das alles ist Ma'at.

Nicht nur die erste praktische Ethik der Menschheitsgeschichte liegt uns mit diesem Konzept vor, und das lange vor der „Achsenzeit“ um 500 v. Chr., als mit Buddha, Konfuzius und Lao-Tse, mit Zarathustra und den jüdischen Propheten sowie den ersten griechischen Philosophen die allgemeingültige, systematische Formulierung einer Ethik und eines geistigen Überbaus für die menschliche Gesellschaft die Bühne des Denkens in der gesamten alten Welt betrat – wobei Ma’at als eine Basis für alle diese Konzepte angesehen werden kann. Nein, auch für unser Verständnis vom alten Ägypten ist Ma'at unverzichtbar, denn dessen Wichtigkeit, so zeigen die Quellen, war den jeweiligen Zeitgenossen durchaus sehr gegenwärtig. Man darf ja nicht vergessen, dass die altägyptische Kultur über einen für uns unvorstellbaren Zeitraum hinweg existiert hat und Sprache, Kultur und Philosophie während dieser Spanne eine ausgesprochen extensive Entwicklung durchlaufen haben. In Wandel wie Konstanz ist Ma'at hier immer gegenwärtig. Ein Anzeichen ist etwa, dass der Begriff als Teil von Personennamen immer gern genommen wurde – „Menmaatre“ („Ewig/Unendlich ist das Ma'at des Re“), der Thron-Name des Pharao Sethos I., Nachfolger Ramses des Großen, ist hier nur eines unter sehr, sehr vielen Beispielen.

Der Autor des vorliegenden Buches ist Professor für Ägyptologie, und vom wissenschaftlichen Anspruch, den Fußnoten etc. ist dieses Buch durchaus ein wissenschaftliches Buch – doch die Darstellung nimmt niemals die bei deutschen Wissenschaftlern allseits beliebte Opazität an, bei der in einem Wust von Fachbegriffen und bibliographischen Verweisen nur noch der Fachkollege verstehen können soll, worum es geht. Nein, im Gegenteil, bei dieser Darstellung des altägyptischen Gerechtigkeits- und Weltordnungsbegriffes ist jeder gebildete, an der allgemeinen Geschichte unseres kulturellen Mem-Pools interessierte Mensch angesprochen, und wer verstehen will, worauf unser heutiges Selbstverständnis als Menschen aufbaut, der findet hier einen enorm nützlichen und faszinierenden Baustein.

Jan Assmann
Ma'at
Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten
Taschenbuch, 319 S., (2001) C.H. Beck
€ 16,50
ISBN: 3406459439

gorillaschnitzel, Mittwoch, 9. März 2011, 23:34
Ja, das kriegt man nicht mehr in die Flasche.

Ich bin ja weniger Ägypter, eher schon Perser. Dort gabs während des Sassanidenreichs übrigens mal so revolutionäre Sachen wie gleiche Bezahlung für Männer und Frauen. Oder Mani, den Religionsgründer, dessen Thesen man in Teilen durchaus als "revolutionär-sozialistisch" bezeichnen kann.

sethos, Mittwoch, 9. März 2011, 23:41
Bei den alten Orientalen wurde schon so einiges erfunden, was sich heutzutage der Westen als 'Leitkultur' auf die Fahnen schreiben.

Während der Westen (=kalter, barbarischer Norden) zu der Zeit noch in Fellen rumlief und Thor und Odin Jungfrauen opferte...

gorillaschnitzel, Donnerstag, 10. März 2011, 23:06
Oja. So um 1200 etwa: Die größten Städe der Welt? Bagdad (heute Irak), Angkor (heute Kambodscha), wahrscheinlich mehrere chinesische Städte, Nischapur (heute Iran), Konstantinopel (heute Türkei), dazu vermutlich Kairo und Kyoto.

sethos, Donnerstag, 10. März 2011, 23:34
London, Paris, Rom, Köln: Kuhkäffer. Berlin, München: fast inexistent. New York, Los Angeles. Rio de Janeiro: gabs nicht.

Absolut richtig. Bagdad war mal sowas wie das Zentrum der zivilisierten Welt.

gorillaschnitzel, Donnerstag, 10. März 2011, 23:45
Nicht zu vergessen die Chinesen. Die warenoft in vielem weit voraus. Wären die Armeen Alexanders des Großen gen China vorgerückt, sie hätten ihr blaues Wunder erlebt. Sie wären ungleich größeren Heerscharen gegenübergestanden, die zudem mit für die Griechen ungekannten Waffen gekämpft hätten (Nebelraketen etwa).

Und ja, Bagdad war mal sowas wie das Zentrum der zivilisierten Welt. Von den Mongolenstürmen haben sich viele islamische Zentren bis heute nie erholt. Nischapur etwa. Bagdad auch nicht wirklich.
Viele Innovationen damals -sei es in Medizin, Mathematik, Wissenschaft oder sonstwo- waren nicht originär arabisch sondern persisch. Siehe etwa Ibn Sina, den wir als Avicenna kennen.

sethos, Donnerstag, 10. März 2011, 23:50
Erst kamen die Mongolenstürme, und dann kam das osmanische Reich; der Westen machte Rennaissance und kam so ganz langsam aus der Knete, und das ehemalige Zentrum der Welt geriet immer mehr ins Hintertreffen.

gorillaschnitzel, Freitag, 11. März 2011, 00:07
So ähnlich funzt bis heute das islamische Selbstbewusstsein: Da hat man den nach islamischer Lehre perfekten Staat, und die nach islamischer Lehre perfekte Gesellschaft. Nix geht drüber. Und dann kommen die Mongolen und danach die Kreuzzügler (weshalb das Wort Kreuzzug sowas von tabu ist, George W. konnte nix schlimmeres sagen als das Wort "crusade"). Von dem haben die sich bisher nicht erholt. Vielleicht machen sie es jetzt. Kairo ist übrigens die Partnerstadt von Stuttgart. (Irgendwie mussten die doch Umsturz lernen, höhö). Yeah.

sethos, Freitag, 11. März 2011, 00:12
Kairo ist übrigens die Partnerstadt von Stuttgart.

Nee, jetzt echt? Klasse! Die einen haben ihre Revolution schon hinter sich und können jetzt Entwicklungshilfe leisten...

sid, Freitag, 11. März 2011, 00:13
Aber ist der Punkt nicht: der Norden läuft schon länger nimmer (nur) in Fellen rum, aber die islam. Länder haben sich von dem Schock vor paar hundert Jahren bloß noch .. ich will ja nicht sagen zurückentwickelt. Aber sehr weit nach vorne kamen die nimmer und entwickelt wurde nur Unterdrückung - oder täuscht das bloß?

sethos, Freitag, 11. März 2011, 00:30
Naja, jetzt holen sie ja auf, und zeigen uns, was eine Harke ist...

Und der Punkt ist auch, daß wir hier im Norden nicht so tun zu brauchen, als hätten wir die Zivilisation (oder die Menschenrechte) erfunden, und müßten jetzt damit die Welt beglücken.

sid, Freitag, 11. März 2011, 00:45
Aber erfinden und jahrelang mit Füßen treten ist auch nicht besser, oder?

Ich will auch nicht behaupten, hier wäre alles rosarot oder himmelblaun, veilchengrün.

Aber wenigstens kann man sich hier (meistens) auch mal 5 Minuten allein auf der Straße bewegen, ohne gleich um sein Leben fürchten zu müssen. (Lassen wir mal die ** Autofahrer außen vor.)

Und wo genau holen sie auf?

sethos, Freitag, 11. März 2011, 01:29
Sie holen auf beim 'wir sind das Volk'?